Murnaus Meisterwerk

SUNRISE
Deutschland/USA 1927
Mit George O’Brien, Janet Gaynor, Margaret Livingston u.a.
Regie: F.W. Murnau
Dauer: 91 min

Die Steigerungsform von Sunrise: Murnaus Meisterwerk – der beste Stummfilm aller Zeiten – der beste Film aller Zeiten.

Nach seinem Meisterwerk Faust drehte Murnau diesen Film in den USA. Produzent William Fox, welcher vom letzten Mann begeistert war lud Murnau in die USA ein, versprach ihm künstlerische Freiheit in allen Bereichen – und hielt das Versprechen tatsächlich ein! Murnau konzipierte den Film mit seinem Team vollständig in Berlin, und reist dann zur Ausführung seiner Pläne in die USA.
Dies mag der Grund sein, weshalb Sunrise so „europäisch“ aussieht. Kulissen, Schauplätze und Kostüme erwecken in keiner Einstellung den Eindruck, als würde man einem in Amerika gedrehten Film beiwohnen. Erst in der Stadtsequenz tauchen einige bekannte Nebendarsteller auf, die man aufgrund langjähriger Seherfahrung zweifelsfrei als „amerikanische Gesichter“ identifiziert – Arthur Houseman etwa, der ewige Trunkenbold aus den Laurel & Hardy-Filmen.

Die Freiheit, die Murnau für Sunrise in den USA bekam, blieb einmalig. Der Film floppte an den Kinokassen, was William Fox veranlasste, auf Murnaus nachfolgende Werke (den verschollenen Four Devils und City Girl) vermehrt Einfluss zu nehmen. In Unkenntnis dieser nachfolgenden Werke kann ich an dieser Stelle (noch) nicht beurteilen, inwiefern sich dies ausgewirkt haben mochte. Also bleibe ich bei Sunrise.

Sunrise ist Kino in Reinkultur – oder besser: Sunrise zeigt, als deutliches und leuchtendes Beispiel, was Kino sein könnte. Lebendige Filmkunst, welche ein Nichts von Inhalt zu einem Kunstwerk erhebt, indem daraus Kraft der Bilder, der Kamerabewegungen, der Beleuchtung, des Schauspiels eine berührende Allegorie auf das Menschsein erwächst, die praktisch keiner Worte, keiner Zwischentitel bedarf um ins Herz des Publikums zu gelangen. Wie in den grossen Kunstwerken der Musik, von Bach bis Bartok, kann hier nicht genau festgestellt werden, was die Seele oder die Wirkung dieses Werks eigentlich ausmacht. Es bleibt abstrakt, ein Geheimnis, das aller grossen Kunst innewohnt; sie wirkt trotzdem unmittelbar und direkt und geht zu Herzen – durch die Komposition aller beteiligten Komponenten, vergleichbar mit Bachs z.T. mathematisch scheinbar kühl ausgetüftelten Werken, die den Zuhörer gefühlsmässig jedoch stark involvieren.

Damit wird deutlich, wie ich dieses Werk einschätze: Als eines der grössten Kunstwerke, das die Cinématografie bis heute hervorgebracht hat. Für meinen persönlichen, beschränkten Filmerfahrungs-Horizont das bislang grösste. Sunrise ist zweifellos der Film, den ich auf die einsame Insel mitnehmen würde.

Natürlich kann man das Werk sezieren; am Schluss hat man die Summe aller Teile und ist so klug wie zuvor. Der Filmhistoriker John Baileytut dies im Audiokommentar der von mir visionierten DVD. Er erklärt jede Einstellung: Was Murnau da gemacht hat, wie er die Kerze dort beleuchtet hat und wie er jene Kamerafahrt erreichte  – mit dem Ergebnis, dass er das Wunder unterschlägt und dem Film die Seele nimmt.
Abgesehen davon sieht man als cinéastisch geübter Zuschauer selbst, wie Murnau was gemacht hat – die Techniken, die er anwendet waren damals zwar zum Teil neu, heute bergen sie für aufmerksame Filminteressierte kein Geheimnis mehr. Das Geheimnis dieses Films – dasselbe gilt übrigens auch für den hier bereits besprochenen Vorgängerfilm Faust – liegt nicht darin was Murnau tut, sondern im Wie, in der ganz individuellen Art, wie Murnau ein Bild komponiert, eine Einstellung konzipiert, die Beleuchtung einsetzt, die Schauspieler orchestriert – und im Zusammenspiel all dieser Faktoren. Das ergibt „einen unverkennbaren Murnau“. Und das kann – zumindest ich – nicht erklären.

Janis El-Bira merkt dazu auf der Site www.filmzentrale.de an, dass die Grösse des Filmkunstwerks Sunrise nicht zuletzt daran erkannbar sei, dass er sich weder in Romanform noch auf die Bühne „übersetzen“ lasse. Der Stoff wäre in jedem anderen Medium verloren, er kann nur in dieser Form existieren. Sunrise ist Film, nichts anderes. Sunrise ist wie wenige andere Filme ein schlagendes, schwer zu widerlegendes Argument in der Diskussion, ob Film Kommerz sei oder Kunst – für die Kunst.

Bleibt der Inhalt. A Song of two Humans, so lautet der Untertitel von Sunrise. Darin enthalten ist Mensch-sein und Menschlichkeit. Ohne Worte und Kommentare spürt Murnau mit fast theologischem Duktus der Frage nach, was das Mensch-sein, die Menschlichkeit ausmache – und findet die Antwort: in der Einsicht, in der Liebe, im Akt der Vergebung.
Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau – ihre Namenlosigkeit soll die Universalität der Erzählung betonen – leben auf einem dörflichen Hof einer Insel (George O’Brien und Janet Gaynor). Er ist einer Touristin (Margaret Sullivan) verfallen, die ihm den Floh ins Ohr setzt, seine Frau zu ertränken und dann mit ihr in der grossen Stadt ein neues Leben anzufangen. Der Mann lockt also seine Frau unter dem Vorwand, einen Besuch in der Stadt machen zu wollen, ins Boot und rudet aufs Meer hinaus. Doch dort begreift er plötzlich, angesicht der Hilflosigkeit seiner Frau, was aus ihm geworden ist. Sie hat seine Absicht erkannt und flüchtet entsetzt, sobald das Boot am anderen Ufer ankommt.
Die folgende Reise in die Stadt wird zur Reise ins Innere ihrer Beziehung. Inmitten des entmenschlichten Trubels der Grossstadt finden die beiden wieder zueinander. Reue, Einsicht, Vergebung – Liebe. Und wie die bei Murnau leuchtet! Da kommen selbst den Hartgesottensten die Tränen.

Die Stadt! Murnau liess sie nach den Plänen von Rochus Gliese vollständig im Studio aufbauen. Es wurde die grösste Filmkulisse, die bis dato errichtet wurde. Und wie schon im Faust ist in Sunrise fast alles Kulisse; der Film wurde praktisch komplett im Studio gedreht – bis auf die Aufnahmen der Insel, die sich aus dem Meer erhebt. Sogar eine ganze Strassenbahnlinie liess Murnau durch die Gegend bauen – was eine der denkwürdigsten Zugfahrten der Filmgeschichte ergibt.
Aber jetzt betreibe auch ich, was ich vorhin angeprangert hatte – aus lauter Gewohnheit. Alle Erklärungen zum Wie und Warum verblassen vor der Grösse dieses Gesamtkunstwerks. Man muss Sunrise gesehen haben, am besten mit der von Hugo Riesenfeld geschriebenen Originalbegleitmusik, die auf der besprochenen DVD mitgeliefert wird.
10/10


Sunrise war im deutschsprachigen Raum auf dieser DVD erhältlich, die inzwischen leider vergriffen ist;er wurde mit grossem Aufwand knapp vor dem endgültigen Verschwinden gerettet, die Bildqualität kann somit nicht ganz mit vergleichbaren Stummfilmausgaben bekannter Anbierter mithalten. Aber besser geht es wahrscheinlich nicht mehr.


Ein Beitrag im Rahmen der Aktion Zeit für DÖS. Obwohl der Film in den USA gedreht wurde, ist er doch zur Gänze in deutschen Studios und von deutschen Mitarbeitern entworfen worden.

12 Comments

  1. Eine schöne und vor allem sehr persönliche Besprechung; man merkt dir deine Liebe zu diesem Film kaum an 😉
    Ich geb dir recht: Sunrise ist großartig. Besonders die bewundernswerten Kamerafahrten beeindrucken mich immer wieder. Generell ist Sunrise auf filmtechnischer Ebene schwer zu steigern… und kann daher zu Recht als Meisterwerk bezeichnet werden.

    Was mir jedoch immer negativ auffällt, ist die ungemein verkitschte Handlung mit den vorhersehbaren Wendungen und den eindimensionalen Charakteren… Parabel hin, Liebeslied her: es wirkt als übertreibe Murnau absichtlich um zu beweisen, dass er großes Hollywood-Kino kann. Daher wirkt Sunrise für mich oft ziemlich aufgesetzt… irgendwie kein waschechter Murnau…

    Übrigens: Ich fand den zu Unrecht unterschätzten „City Girl“ trotz einiger Längen immer sehr unterhaltsam. Lohnt sich…

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    1. Ich kann weder keine besseren Gegenargumente für die von Dir erwähnten Negativpunkte finden, noch könnte ich diese besser ins Feld führen als Sieben Berge dies in seinem Kommentar weiter unten tut – deshalb schliesse ich mich ihm der Einfachheit halber (oder zugunsten des rationellen Argumentierens) vorbehaltlos an.

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  2. Oha, das ist ja eine Liebeserklärung, die in der Form hier nie zu lesen war bisher. Besonders unterstreichen möchte ich, dass die Leistung Murnaus nicht im zwar sehr beeindruckenden technischen „Was“, sondern im „Wie“ der persönlichen Aneignung steckt. Unter heutiger Perspektive scheint die Handlung sehr einfach, für manche auch kitschig empfunden zu werden. Aber ich glaube, man kann Handlung und Filmtechnik gerade bei Murnau nicht trennen. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass es eben nicht eine den damaligen Kitschkonventionen entsprechende Allerweltsromanze ist. Im Gegenteil. Die Handlung ist in jeder Sekunde in die Bildwelt eingeschmolzen, jedes Detail der Szenerie spiegelt sie wieder. Man könnte es mit einer Oper vergleichen. Auch dort ist der Text des Librettos oft sehr einfach, aber in Verbindung mit der Musik geht er in einem neuen Kunstzusammenhang auf. Zudem, und das ist vielleicht noch entscheidender, ist jede Sekunde des Films ein persönliches, lebendes Moment. Nichts ist Konvention, sondern in allem erschuf Murnau eine persönliche Kunstwelt.

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  3. Der Film ist wirklich großartig, deshalb ein großes Danke für diese Rezension mit Herzblut. Als ich den Film das erste Mal sah, war ich auch sehr begeistert, obwohl ich die literarische Vorlage bereits kannte. Eigentlich ist es eher selten, dass ein Film mich mehr begeistert als das Buch. Was vor allem daran liegt, dass ein Buch immer mehr Spielraum für eigene (Kopf)Bilder läßt, als ein Film.
    Auch für mich ist dieser Film einer der schönsten Stummfilme. Wenn ich jemanden meine Leidenschaft für Stummfilme näher bringen will, dann zeige oder empfehle ich Ihm „Sunrise“, denn er spricht mit seiner Bildgewalt und Aussage auch heute noch den Menschen an!
    In einem Punkt muss ich Dir aber widersprechen, bzw hatte ich einen anderen Eindruck. Auf mich wirkte der Film und seine Kulissen schon ziemlich amerikanisch. Ich hatte den Eindruck, dass die Kulissen schon so angelegt waren, wie sich ein Amerikaner Europa vorstellt. Besonders die Stadtszenen waren dann schon sehr amerikanisch. Dieser Eindruck liegt wohl auch daran, dass ich kaum amerikanische Filme schaue, und mein Schwerpunkt auf dem europäischen Film liegt. Bei Murnau ist das aber anders, hier gefallen mir seine amerikanischen Filme besser als seine deutschen Filme. Mit AUsnahme von „Der letzte Mann“ vielleicht. „City Girl“ kann ich auch nur empfehlen!
    Den „Kitsch“ Vorwurf kann ich nur bedingt nachvollziehen. Die Story ansich ist durchaus „kitschig“, was aber an der Sudermann’schen Vorlage (nachzulesen hier: ftp://ftp.gwdg.de/pub/misc/Gutenberg-DE/gutenberg.spiegel.de/suderman/tilsit/tilsit.htm liegt, die eben ganz der (deutschen) Romantik des ausgehenden 19.Jahrhunderts verhaftet ist. Die Vorlage spielt in der (damals) östlichsten deutschen Provinz, in Ostpreußen, und handelt von einem jungem Ehepaar aus der litauischen Landbevölkerung, welches einen Ausflug in die Kleinstadt Tilsit unternimmt, und dort zusammenfindet, weil dort so vieles anders und neu ist. (Inzwischen liegt Tilsit ja als Marketinggag der schweizerischen Käseindustrie in der Schweiz, während das ursprünglische Tilsit heutzutage auf den Namen Sovjetsk hört und in Russland liegt).
    Später wurde der Stoff ja noch weitaus weniger gut in Deutschland verfilmt (1939 von Veit Harlan und als TV-Film 1969). Zumindest den letzteren TV Film habe ich nie gesehen, aber im Vergleich mit Murnau ist Harlans Werk einfach nur belanglos. Das macht die Einzigartigkeit und das besondere Talent von Murnau umso bedeutender. Schade, dass er uns nicht weitere Meisterwerke hinterlassen konnte, und so früh verstarb!

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    1. Ja, das ist das Erstaunliche an diesem Film: Er erhebt ein im Grunde belangloses Grundgerüst zum über alle Zeiten hinweg gültigen moralisch-ethischen Menschenbild – allein durch die Filmkunst!

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      1. Wir konnten den Film gestern in einer ganz speziellen Form sehen. Und zwar wurde die Musik live eingespielt, von einem ein-Mann-Orchester notabene. Das war ein ganz aussergewöhliches Erlebnis, da der Künstler einerseits alle möglichen Instrumente gespielt, und ausserdem noch andere „Geräusche“ (wie zum Beispiel Wasserplätschern oder umfallende Flaschen) selber erzeugt hat. Ganz grossartig war das.
        Der Film selber kann technisch gesehen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das war schon ganz grosses Kino, zu einer Zeit, wo jede Menge Menschen noch nicht mal Elektrizität oder fliessend Wasser im Haus hatten. Kameraeinstellungen und -fahrten, Beleuchtung, Kulissen und „Spezialeffekte“, alles seiner Zeit weit voraus.
        Ein grosser Minus-Punkt ist aber die Story. Mal abgesehen davon, dass sie auf einem Bierdeckel Platz finden würde, war sie auch nicht wirklich glaubwürdig dargestellt. Wie und wann und warum die „lady from the city“ sich in den Bauern verliebt haben soll wird nicht mal angedeudet, es wird einfach gesagt, es sei so, und fertig. Oder was der Bauer an der fremden Frau anziehend finden soll, nichts. In der Filmmitte dann etwas zeitgenössische Komik zur Auflockerung, zum Schluss ein Schuss Dramatik, dann ein kitschiges Happy Ending, das dem ganzen noch quasi die Krone aufsetzt. Bei allem Respekt vor dem Zeitgeist, aber heute wirkt die Geschichte an sich schon sehr angestaubt und wenig fesselnd.
        Trotzdem war es insgesammt ein Erlebnis und ich bin froh, dass wir dabei sein durften.

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