GIRL SHY (1924)

(dt. Mädchenscheu)
USA 1924
Regie: Fred C. Newmeyer und Sam Taylor
Mit Harold Lloyd, Jobyna Ralston, Carlton Griffin, Richard Daniels u.a.
Dauer: 80 min

Da bin ich also wieder bei Harold Lloyd gelandet! Dieser Schauspieler und Produzent, der damals so erfolgreich war wie Chaplin oder Keaton, ist heute nur noch wenigen ein Begriff.

Dabei reicht der hier besprochene Film mühelos an die besten Werke der beiden letztgenannten heran – was zumindest dem damaligen Publikum klar gewesen sein muss, denn an der Kinokasse schnitt Girl Shy hervorragend ab und das Gros der Kritiker überschlug sich vor Begeisterung.

Harold Lloyd, ein Meister der Kinokunst? Ganz klar ja! Wer’s nicht glaubt, soll sich die Lloyd-Box (Details siehe unten) anschaffen und sich ein paar seiner Meisterwerke zu Gemüte führen, unter denen der hier besprochene Film in meiner Gunst ganz vorne rangiert!

In Girl Shy spielt Lloyd den krankhaft mädchenscheuen Schneider Harold Meadows, der im Geheimen an einem reisserischen, in der Ich-Form verfassten Buch über den richtigen Umgang mit Frauen arbeitet. Harold stottert schrecklich, und wenn ihn ein hübsches Mädchen über den Weg läuft erstarrt er zur Salzsäule – ganz anders als sein literarisches alter ego, das genau weiss, welche Behandlung jeder Frauentyp braucht. Im Film wird der Ton von Harolds Buch durch zwei kurze Sequenzen veranschaulicht.

Erst als Harold im Zug Mary Buckingham (Jobyna Ralston) begegnet, ändert sich sein Leben langsam, denn sie bringt das Kunststück fertig, ihn seine Scheu langsam überwinden zu lassen. Doch leider ist sie bereits versprochen, und zwar dem betrügerischen Ronald De Vore (Carlton Griffin) – eine Verbindung, die Harold in allerletzter Sekunde verhindern kann, indem er über sich selbst und sogar über sein literarisches alter ego hinauswächst.

Berühmt ist Girl Shy wegen seinem furiosen Finale, einem halsbrecherischen, fast zwanzig Minuten dauernden Wettlauf gegen die Zeit auf wechselnden Fahrzeugen. Das ist action pur, schon damals perfekt ausgeführt. Doch der Film hat wesentlich mehr und wesentlich Subtileres zu bieten als diese – zugegeben – grandiose Jagd!

Die Charakterzeichnung zum Beispiel ist schlicht hervorragend – da sprechen kleine Gesten Bände! Die Figuren sind scharf konturiert und in wenigen prägnanten Szenen oder Gesten charakterisiert. Offensichtlich beherrschte Lloyd die filmische und die erzählerische Ökonomie perfekt. Keine Szene ist zu lang geraten, kein Blick zuviel – und doch wirkt nichts berechnet oder gekünstelt.

Auch gibt es in Girl Shy kaum eine nutzlose Sequenz; jede treibt entweder die Handlung vorwärts oder vertieft die Charakterzeichnung der Figuren – jede, ausser der rasenden Fahrt am Schluss. Da dringt das pure Spektakel durch, dem aber doch immer wieder die fortschreitende Hochzeit, die Harold verhindern will, zwischengeschnitten ist.

Das subtile Gegenstück zu Harolds finaler Raserei bilden zwei Pappschachteln, eine mit Hundekeksen und eine mit Crackern. Beide Schachteln werden im Film als Symbole für die Sehnsucht der beiden Liebenden immer wieder, auf vielfältige Weise und meist ganz nebenbei eingesetzt. Dadurch erhalten sie ein Eigenleben. In Umgang der Filmemacher mit diesen beiden Schachteln offenbaren sich sowohl ihre grosse filmische Meisterschaft als auch der Vorzug eines guten Stummfilms: Wenn zwei Pappschachteln plötzlich mehr aussagen als Worte in einem Tonfilm, dann wird klar, warum uns der Stummfilm noch heute soviel zu sagen hat.

Girl Shy darf getrost als Meisterwerk der Stummfilmkomödie bezeichnet werden.

Die DVD-Ausgabe: Der Film ist in der 10-DVD-Box Harold Lloyd – The Collection im deutschsprachigen Raum erschienen. Darin enthalten sind Lloyds sämtliche Langfilme, plus einige seiner besten Kurzkomödien.
Girl
Shy
(und alle anderen enthaltenen Filme) sind digital neu aufgearbeitet worden, die Bildqualität lässt nichts zu wünschen übrig! Girl Shy ist teilweise viragiert, was wohl damit zusammenhängt, dass mehrere Vorlagen für diese Ausgabe beigezogen wurden.

Die grossartige Filmmusik stammt von Robert Israel und bringt die Vorzüge von Girl Shy so richtig zum Leuchten. So sollte gute Stummfilm-Begleitmusik sein! Sie wurde extra für den Film komponiert und von einem Kammermusik-Ensemble eingespielt!

Die Lloyd-Box ist allemal eine lohnende Anschaffung, denn die allermeisten der darin enthaltenen Lloyd-Werke sind den Preis wert! Die Box kostet bei amazon derzeit 35 Euro (bei “verschienen Anbietern”; Info vom 4. Dezember 2009; kann sich aber schnell wieder ändern).
Bei ebay ist die Box momentan sehr günstig zu finden

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