Der letzte Stummfilm

MODERN TIMES
USA 1936
(dt.: Moderne Zeiten)
Mit Charlie Chaplin, Paulette Goddard, Chester Conklin, Henry Bergman
Regie: Charles Chaplin
Dauer: 83 min.

1936: Das Tonfilmzeitalter ist längst angebrochen. Ein Mann weigert sich standhaft, dies anzuerkennen, dreht weiterhin Stummfilme und hat damit Erfolg – Charles Chaplin.

Modern Times sollte sein letztes stummes Werk werden, danach konnte er seinen Widerstand nicht mehr aufrecht erhalten und musste sich geschlagen geben. Die Tatsache ware bereits 1936 unumstösslich: Der Tonfilm hatte sich – entgegen Chaplins Hoffnungen – durchgesetzt.

Der Widerstreit zwischen seiner Hoffnung auf Kurzlebigkeit der tontechnischen Neuerung und der Erkenntnis der Vergeblichkeit seines Hoffens, der sich in Chaplin zu jener Zeit abgespielt haben musste, ist in Modern Times zu beobachten: Es gibt hier bereits einige Konzessionen an den „tönenden Film“. Es gibt Dialog, zu hören allerdings immer nur verzerrt durch irgendwelche Sprechmaschinen. Am Schluss erklingt allerdings Charlies Stimme, aus seinem eigenen Munde: Er gibt ein Lied zum besten – genau wie dies die Schauspieler der ersten Tonfilme in den späten Zwanzigerjahren taten. Der Text jedoch ist reiner Unsinn, ein Kauderwelsch, das allein durch Chaplins Pantomime verständlich wird.
Und dann gibt es noch diese fiese Sequenz, wo Chaplin die „Segnungen“ des Tonfilm endgültig ins Lächerliche zieht. Die Begleitmusik stoppt, zu sehen sind zwei Menschen, die Tee trinken. Zu hören sind – peinliche Körpergeräusche.

Modern Times war nicht nur Chaplins letzter Stummfilm – er war der letzte Stummfilm zumindest des Kinos der westlichen Hemisphäre. Natürlich gab es auch danach noch Stummfilme, von Mel Brooks etwa oder von Guy Maddin, aber Modern Times war der letzte stumme Film, der aus der ursprünglichen Stummfilmtradition heraus entstand.

Was hat Modern Times ausser ätzenden Kommentare zum Tonfilm sonst zu bieten?
Eine wirklich starke Anfangssequenz von rund 20 Minuten, wo das „moderne Zeitalter“ mit seinen Fabriken und seiner Fliessbandarbeit eindrücklich als menschenverachtend entlarvt wird.
Die bekannte Sequenz, die Charlie und weitere Arbeiter zeigt, wie sie versuchen, mit einem immer schneller laufenden Fliessband Schritt zu halten und die vorbeirasenden Teile mit unsinnigen Verrichtungen immer schneller bearbeiten, gehört wohl zum Besten, was Chaplin je auf die Leinwand gebracht hat. Das geht unter die Haut, da bleibt das Lachen auf halbem Weg stecken. Die Grösse dieser Sequenz muss auch ein Chaplin-Skeptiker wie ich anstandslos anerkennen!

Totzdem folgt dem ein Aber, denn nach diesen 20 Minuten fällt der Film in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Ich hatte bei jedem Ansehen des Films den Eindruck, dass die beschriebene Fliessband-Sequenz die Keimzelle des Projektes bildete, zu der Chaplin danach nichts Passendes oder Vergleichbares mehr einfallen wollte. Was danach kommt, ist zum Teil banal, jedenfalls wirkt der grosse Rest gerade im Vergleich zur Anfangssequenz schwach und etwas fade.

Es werden zwar noch einige weitere brisante Zeitthemen wie Arbeitslosigkeit oder Armut in den Film mit eingewoben, doch erscheinen die hier im Zusammenhang mit der Liebesgeschichte eher im sozialromantischen als im sozialkritischen Gewand, was im Vergleich zur Wucht der Anfangssequenz auf verwirrliche Weise verniedlichend erscheint.

Auch eine zweite Fabrikszene erreicht nicht mehr die Aussagekraft der ersten. Der ganze restliche Film erweckt das Gefühl, Chaplin albere ein wenig rum, teilweise zwar auf hohem Niveau, aber in keinem Verhältnis zur Anfangssequenz und zum gloriosen Ruf des Film stehend. Es lässt sich leider nicht guten Gewissens schönreden: Der Film bezieht seinen Ruf aus den ersten zwanzig Filmminuten.
Der Rest ist manchmal gut, manchmal mittelmässig, in den Liebessequenzen oft an der Grenze zum Peinlichen (Chaplin verliebte sich während der Dreharbeiten in Paulette Godard), cinématografisch kommt er eher einfach daher; es gibt einige satirische Highlights (Tonfilm!), das Attribut „genial“ jedoch, das dem Film immer wieder angehängt wird, scheint mir insgesamt allzu hoch gegriffen.
7/10

Die DVD: Es handelt sich hier um die DVD von mk2. Sehr gute Bild- und Tonqualität, viele Extras.

Regionalcode 2

Verfügbarkeit:
Deutschsprachiger Raum: Der Film ist im deutschsprachigen Raum erhältlich. Die von mir gesehene DVD ist zwar nicht mehr lieferbar, bei einigen privaten Anbieren aber via amazon.de noch erhältlich: Hier. Und hier die neue Ausgabe von kinowelt.

10 Comments

  1. Ein schöner Bericht.

    Du gibst dich zwar skeptisch, lässt aber auch Respekt anklingen für die unbestreitbaren Höhepunkte von „Modern Times“ (die Seitenhiebe gegen den Tonfilm, die es übrigens auch in dem von dir so wenig geschätzten „City Lights“ gibt, die Fließbandszene), was mich gefreut hat.

    Für mich freilich ein Meisterwerk; für damalige Verhältnisse wahnsinnig subversiv und für mich, der mit Chaplins Humor etwas anfangen kann, reihen sich die großartigen Szenen auch nach den ersten 20 Minuten (die aber tatsächlich zum besten gehören, was Chaplin je gemacht hat) aneinander.

    Mich würde übrigens interessieren, was du von Chaplins Tonfilmen nach „The Great Dictator“ hälst – „Monsieur Verdoux“, „Limelight“ ..

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    1. Danke für Deine Nachsicht 😉
      Den „Dictator“ finde ich grandios – die letzte Sichtung ist allerdings einige Jahre her, den „Verdoux“ habe ich noch viel länger nicht gesehen, er hat mir aber damals (vor ca. zwanzig Jahren) sehr gut gefallen; muss ihn aber unbedingt nochmals anschauen, bevor ich mehr dazu sagen kann. „Limelight“ ist der Chaplin-Film, der am längsten zurückliegt (ca. 35 Jahre); damals hat er mir nicht gefallen. Aber das war in einem anderen Jahrhundert…
      Ich sehe schon: Es ist höchste Zeit für eine Chaplin-Retro.

      PS: Subversivität ist eine Eigenschaft (Qualität), die ein Film haben kann, als Qualitätsmerkmal taugt sie m. E. nicht…

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  2. Ich bin deiner Argumentation in ähnlicher Form (das ungleichmässige Episodische betonend) schon mehrfach begegnet, frage mich aber jeweils, ob diese Episoden nicht einfach als Versuche der beiden Hauptdarsteller, in der Depressionszeit Fuss zu fassen, verstanden werden können (was den Film zu einem Ganzen „zusammenfügen“ würde). – Zumindest die letzte Szene (das als Bekämpfen der Hoffnungslosigkeit mit der Hoffnung zu verstehende Weitergehen des Paars in den Sonnenuntergang) hat meines Erachtens (Film-)Geschichte gechrieben und wird sogar in Iñárritus „Amores Perros“ (2000) zitiert: El Chivo schreitet mit seinem Hund am Ende ebenfalls einer ungewissen Zukunft entgegen.

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  3. Dein Kommentar gibt genau mein Empfinden wieder. Nun liegt auch bei mir die Sichtung schon lange zurück, doch die Erinnerung ist stark – vor allem an den Beginn.

    Ich habe auch inzwischen von einige Versuchen gelesen, den Film als Ganzes zu „retten“, einige der Argumente dafür werden ja hier gebracht. Doch selbst im günstigsten Falle, wenn man die zwei Hälften als unterschiedliche Aspekte der Depressionszeit liest, müsste man konstatieren: Der Beginn wirkt unmittelbar auch jenseits seines Entstehungskontextes, der zweite Teil ist historisch geworden. Leider.

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